INFORMER magazine | AUFTAKT zur Konzept-Serie ESSEN

INFORMER magazine | AUFTAKT zur Konzept-Serie ESSEN

Essen, heute eine wachsende Großstadt mit aktuell gut 590.000 Einwohnern, blickt auf eine lange architektonische und städteplanerische Geschichte zurück. Eine, die im Lauf der Zeit so- wohl verbaute Tristesse, als auch visionäre Köpfe zugelassen hat. Meisterwerke der Baukunst reihen sich ein neben Bausünden vergangener Generationen. Mit der Jahrtausendwende hat ein wahrer Bau-Boom in Essen eingesetzt; alte Industrie- und Gewerbeflächen werden seither erschlossen. Neue Stadtviertel und Straßenzüge wachsen wie Pilze aus dem Boden. Wie wird wohl die Metropole von morgen aussehen, wohin entwickelt sie sich? Geht Essen ähnliche Wege wie Berlin, Düsseldorf oder München? Oder einen ganz eigenen? Der INFORMER konnte die beiden Planer Ercan Agirbas und Frank Eittorf für ein ganz besonderes Vorhaben gewinnen, ein visionäres Gedankenspiel. In ihm stehen nicht die großen Prachtbauten im Fokus, sondern Orte, die zum Verweilen einladen könnten – Orte, die jeder kennt.

Ihr Architekturbüro ‚Agirbas Eittorf Friends‘ wird fortan regelmäßig Ideen und Planungen für die Stadt Essen vorstellen: kleine und große, kreative, untypische, streitbare. Das erklärte Ziel: den Gedanken freien Lauf lassen, Diskussionen anstoßen, Menschen zusammenführen, die Visionen für die Stadt leben und umsetzen wollen. Bevor die Serie mit dem ersten Ort beginnt, widmen wir uns der gebauten Historie der Stadt und geben Einblicke in die Ideenwelt der beiden Architekten. Doch lassen Sie uns zuvor die Uhr ein wenig zurückdrehen, um gut 1172 Jahre: Die Reise beginnt im Mittelalter. In dieser Epoche prägen Frauen das Stadtbild. Die Gründung der späteren Stadt Essen geht auf das 845 gegründete Frauenstift für die Töchter des sächsischen Adels zurück. Der heilige Altfrid, bekannt als Bischof von Hildesheim, gilt als Gründer des Stifts als Keimzelle der Stadt. Ab dem 14. Jahrhundert residieren und regieren die Fürstäbtissinnen in Schloss Borbeck. Später, nach dem Dreißigjährigen Krieg und in der Zeit des industriellen Aufschwungs, drückt der wirtschaftliche Adel der Stadt und der Region seinen Stempel auf: 1811 gründet Friedrich Krupp seine Gusstahlfabrik; wenige Jahre später ist Essen nicht wieder zuerkennen: Zechen, Hüttenwerke, Giganten aus Stahl prägen das Stadtbild. Das neue Essener Rathaus, ein Profanbau im Stil der Neugotik errichtet ab 1878, verdeutlicht den ganzen Stolz der aufstrebenden Stadt und ihrer Bürgerinnen und Bürger. Der Industrielle Friedrich Grillo stiftet ihnen 1892 ein Theater und Opernhaus. Es geht bergauf. Im Süden wird die Ruhr 1931 im Baldeneysee gestaut, Kanäle durchziehen den Norden der Stadt.

Im Zweiten Weltkrieg wird die Stadt weitgehend zerstört, werden Wahrzeichen in Schutt und Asche gelegt. Was stehen bleibt oder wiederaufgebaut wird, prägt Essen noch heute: die Margarethenhöhe, die Villa Hügel und der Hügelpark, die frühere B1, die A40. Ebenso ziert sozialer Wohnungsbau das Stadtbild – auf seine ganze eigene charmante Weise. Anders das Museum Folkwang, die Zeche Zollverein mit dem bentongewaltigen Sanaa-Gebäude, die Hochhäuserfronten von RWE, Eon, Evonik und das ThyssenKrupp-Quartier. Im Hier und Heute legen an- dere Hand an an die Stadt, im Großen wie im Kleinen. Es sind Planer wie Ercan Agirbas und Frank Eittorf. Beide sind rumgekommen in der Welt und laden ein zu einer Reise, die einen Austausch ermöglicht: Von Paris und Maskat nach Essen.

In Mülheim geboren und Kettwig aufgewachsen, lehrt Frank Eittorf heute an der École Spéciale d’Architecture in Paris. Ercan Agirbas, ein Gelsenkirchener mit türkischen Wurzeln, ist ebenso in die Ruhrstadt vernarrt. Er lehrt an der German University of Tecnology in Maskat, Oman. „Wir wollen nicht nur die Architektur betrachten, sondern ebenso allgemein über Stadtplanung und Lebensqualität reden. Für diese Serie haben wir einige besondere Orte in Essen ausgewählt, die Potenzial haben, aber ebenso problembehaftet sind“, so Agirbas. Das können Bahnhofsunterführungen, Brücken, Parkhäuser, Kreuzungen oder sogar Autobahnen sein – eben Orte, an denen derzeit Menschen aneinander vorbeilaufen und -fahren, die aber mehr sein können.

RUHEORT AUTOBAHN
„Ich habe zum Beispiel eine Lärmschutzwand an der A43 gemeinsam mit der Agentur ‚orange edge’ gestaltet, ein Design-Verkehrsbauwerk. Den Autofahrer begleiten, seiner Geschwindigkeit angepasst, horizontal farbige Streifen“, sagt Eittorf. Sie weisen rhythmisierend auf die folgende Ausfahrt am Ende der Lärmschutzwand hin. Eittorf: „Das ist so ein Ort, an dem wir oft vorbeikommen, ihn aber sonst nie wahrgenommen haben. Solche Orte wollen wir zur Diskussion stellen.“

Wenn Agirbas und Eittorf über Architektur und Stadtplanung in Essen sprechen, dann beginnen sie gerne in der für sie „glorreichen Zeit“, den 1960er und 1970er Jahren: Gruga und Grugahalle entstanden damals als Wahrzeichen für den wirtschaftlichen Aufschwung. Im Ruhrgebiet übte man sich dennoch in Zurückhaltung. Eittorf: „Die Menschen hatten schon in dieser Zeit einen Komplex, das sinnbildliche Gefühl: Das Ruhrgebiet hat kein Recht auf ein Opernhaus, auf große Prachtbauten, auf eine Königsallee. Das wurde damals wirklich diskutiert. Wenn etwas groß und gut sein soll, dann gehe ich nach Düsseldorf, hieß es.“ Das Gefühl, nicht gleichauf mit Düsseldorf oder vergleichbaren Städten zu sein, es herrsche bis heute vor. Agirbas: „Es ist mit dafür verantwortlich, dass Fehlentscheidungen getroffen werden.“

Eine unverzeihliche Busünde sehen beide Planer etwa im Baukörper des Atlantic-Hotels an der Grugahalle. Eittorf: „Dieses Gebäude stelle ich städteplanerisch in Frage. Auch wenn es gut tut, dass dort etwas ist, ist doch die Art und Weise, wie dieses Etwas städtebaulich umgesetzt wurde: Das Hotel hat in seiner Form und Dimension den Charakter der Grugahalle als Solitär, als Einzelbauwerk, sehr geschwächt. Mit dem Neubau des Haupteingangs der Messe Essen kommt nun ein weiterer Komplex hinzu, der die Aufmerksamkeit des Betrachters absolut fehlleitet.“ Agirbas, der dem Gestaltungsbeirat der Stadt Wuppertal angehört, ist sich sicher: „Wir hätten ein derartiges Vorhaben kontrovers diskutiert. Man muss schon grundsätzlich den Baudenkmälern, die man hat, mit einer gewissen gesunden Distanz begegnen.“ Eittorf sieht hier vor allem die Stadt in der Verantwortung: „Und ebenso die Politik, etwa, wenn sie es zulässt, dass ein Solitär wie die Grugahalle zugebaut wird. Es gab Alternativen: Man hätte flach und in die Länge oder die Höhe bauen können. Doch am Ende wurde wohl eher eine baurechtliche, nicht aber eine gestalterische Entscheidung getroffen.“ Agirbas ergänzt: „Immerhin, sie haben das Stellplatzproblem gelöst.“

Das Stellplatzproblem? Für Ercan Agirbas eine Art Ikone des deutschen Baurechts, die alle Orte, die im Rahmen der Serie vorgestellt werden, tangiert: „Sie besitzen als Problematik die Sturheit unserer Baugesetzgebung, die Sturheit der Bauordnung, die viele Potenziale zu nichte machen. Ein Beispiel: Es gibt viel Leerstand in der Stadt. Es gibt viele Initiativen, die diesen Leerstand bespielen würden. Doch sobald man dann anfängt, es so zu planen, dass es dann der NRW-Bauordnung entspricht, funktioniert das alles nicht mehr. Die Baugenehmigung wird etwa nur erteilt, wenn nach heutigem Stand ausreichend Stell- und Parkplätze nachgewiesen werden, der Brandschutz nach heutigem Stand gewährleistet ist – doch das kann man mit einem 100 Jahre alten Haus nicht machen. Das sind dann so Dinge, wo viele Bauherren und wir Architekten gerne verzweifeln, denn die Potenziale sind da. Abreißen und neu bauen ist dann meist die einfachere, aber teurere Variante.“

FOKUS GRUGAHALLE
Anderer Baukörper, gleiches Thema: Bunker in Essen. Eittorf: „Es gibt Ideen, was man aus diesen Bunkern in etwa Kettwig oder Werden machen könnte. Doch die kommen nicht zum Zuge, weil es mal in der Höhe eine Begrenzung gibt, oder das Grundstück des Bunkers genau so groß ist wie der Bunker selbst. Hier Stellplätze nachzuweisen ist unmöglich.“ Beide Architekten halten den Stellplatznachweis, der stellvertretend für viele andere Forderungen des Baurechts steht, für antiquiert. Eittorf: „Die Entwicklung nimmt doch einen völlig anderen Weg. Carsharing ist angesagt, sich zu Fuß, mit dem Fahrrad oder Bus und Bahn zu bewe- gen. Hier liegen Chancen.“ Was am Ende mit den Bunkern passiert? Nichts. Agirbas: „Sie stehen die nächsten dreißig Jahre zumeist weiter als Ruine herum und alle ärgern sich darüber.“ Anders als bei der Grugahalle wünschen sich die Planer hier mehr Flexibi- lität von Seiten der Stadt. Eittorf: „Gerade bei Bestandsgebäuden muss man verstärkt mit Ausnahmen arbeiten. Sie tragen zum Bild, zur Individualität bei. Andere Länder sind da fortschrittlicher und exibler. Es macht einen Unterschied, wenn ich Ausnahmen genehmige und damit ein wenig offener umgehe, als wenn ich auf jedem Paragraphen beharre.“

Ein weiteres Problem im Umgang mit dem Bestand haben wir derzeit in Kettwig, hier werden gerade mehrere alte Villen und Fachwerkhäuser abgerissen. „Dafür kommen dort Mehrfamilienhäuser hin, was die Investoren freut. Die Identität hingegen, die diese Stadt ausmacht, geht verloren. Es muss nicht immer ein Neubau sein“, bekräftigt Eittorf. Dieses Beispiel ließe sich in anderen Stadtteilen ebenso finden.

Die beiden Architekten könnten noch viele andere Beispiele aufzählen, wo sich die Katze in den Schwanz beißt. „Doch ich möchte allgemeiner werden und die Frage ‚Was kann Essen?’ aufgreifen: Wie würde das alles besser laufen? In Konkurrenz zu treten zu all den anderen Großstädten im Land, das haben die Ruhrgebietsstädte gar nicht nötig. Das merke ich überall wo ich unterwegs bin, wenn ich erzähle, dass ich aus dem Ruhrgebiet komme“, sagt Agirbas. Der Mensch macht den Unterschied, freundlich, herzlich und bescheiden. Schnell sei da der Taubenzüchter als Beispiel gewählt, ein Synonym für den Ruhri: Er, in der Historie oft Bergmann, der unter Tage in engen Gängen schuftet, sieht seine Sehnsucht nach Unendlichkeit in Form der fliegenden Tauben befriedigt. Agirbas: „Die vielen Taubenschläge sind schon sehr speziell fürs Ruhrgebiet. Und es gibt so viele andere Orte, bei denen auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist, welche Potenziale da drinstecken. Wenn wir es als Planer schaffen, da Katalysator zu spielen und deutlich zu machen, dass in einigen städtische Räumen die Lebensqualität durchaus verbessert werden kann, dann sind wir schon erfolgreich. Ich spreche von Orten, die uns jeden Tag zehn Mal begegnen: Kreuzungen, die in ihrem Umfeld nur Verkehrsraum haben, was aber nicht sein muss. Hier können durchaus Qualitäten geschaffen werden“, so Agirbas. Gleiches gelte für in die Jahre gekommene zentrale Gebäude, etwa am Hauptbahnhof. Eittorf: „Das ist ein Ort, der künftig anders genutzt werden könnte als ursprünglich gedacht. Mit ergänzenden Nutzungen kann das Potenzial des Bestandes hervorgehoben werden. Aus diesem Grund widmen wir uns im ersten Teil der Serie genau diesem Spot.“

In der Innenstadt, im Norden, Süden, Osten und Westen der Stadt werden Ercan Agirbas und Frank Eittorf Ideen aufzeigen: „Wir widmen uns Orten, bei denen wir Probleme erkannt haben, jedoch zugleich Potenziale sehen. Wir gehen auf die Eigentümer, Pächter und Menschen im Umfeld zu, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Wir setzen auf den Dialog, um Menschen verschiedenster Ebenen zusammenzubringen. Wir wollen mit der Stadt ins Gespräch kommen, Netzwerke bilden. Uns ist dabei klar: Stadtplanung hat immer etwas mit Vision zu tun. Der Dialog ist wichtig. Essen hat das Potenzial, sich zu verändern.“

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