INFORMER | spot 03 | das WILLY-BRANDT-TOR

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Zentral wohnen, wo andere einkaufen. „WAS WÄRE WENN?!“ Die beiden Planer Frank Eittorf und Ercan Agirbas beschäftigen sich in diesem Teil der Serie mit dem ersten Platz der Stadt, dem Willy-Brandt-PLATZ – und der Vision vom ‚Willy-Brandt-TOR‘.

Wie viele Hauptbahnhöfe krankt auch der Essener an den Problemen und Klischees eines klassischen Bahnhofsumfelds: Trinkende, zumeist alkoholisierte Jugendliche und Ältere stören das Bild eines angenehmen und einladenden Stadtraums. Die sogenannte ‚Trinkerszene’ beschäftigt immer wieder den Rat der Stadt und die zuständige Bezirksvertretung. Wer auf sie trifft, ihrem Gegröle und manchem unangebrachten Spruch ausgesetzt ist, fühlt sich schnell unwohl. Vor dem Kundencenter der ‚RuhrBahn’ (vormals EVAG) und dem Reisezentrum der Deutschen Bahn hat sie aktuell ein überdachtes ‚Zuhause‘ gefunden. Bei gutem Wetter ist die Szene gleichwohl noch immer auf dem benachbarten Willy-Brandt-Platz anzutreffen. Diese Willkommensgeste auf dem Platz, der kauffreudige Kundschaft zur Kettwiger Straße hin geleitet, könnte durchaus einladender sein. Immerhin rühmt sich Essen seit 1950 als ‚die Einkaufsstadt‘, wie der Schriftzug auf dem Handelshof-Gebäude seither verkündet. Ein Grund für die beiden Planer, sich in diesem Teil der Serie mit dem Willy-Brandt-Platz zu beschäftigen.

Ein Mitarbeiter aus dem Amt für Stadtplanung und Bauordnung der Stadt hat die Planer auf die besondere Problematik am ‚Eingang zur Innenstadt‘ aufmerksam gemacht. Er ist geprägt von leeren Flaschen, Dreck und Unrat. „Die Gründe für diese Entwicklung liegen auf der Hand. Der Bahnhof ist zentral und für Jedermann gut zu erreichen, ebenso der Supermarkt im Bahnhof als Getränkemarkt erster Wahl, dazu mit erschwinglichen Preisen“, sagt Eittorf. Der Öffentliche Nahverkehr stellt zudem eine vernünftige und sichere Alternative für den alkoholisierten Heimweg, ob allein oder in der Gruppe. Agirbas: „Das System funktioniert – Tag für Tag aufs Neue! Lediglich die Geschäftsleute klagen, allen voran jene im direkten Umfeld des Handelshofs.
Wir wollen den Willy-Brandt- Platz neu beleben. Es geht uns allerdings nicht darum, eine Nutzergruppe zu vergraulen, sondern bestehende Stadträume mit neuen Nutzungen und Nutzergruppen zu ergänzen, vor allem mit neuen Bewohnern.“

Wie viele Innenstädte ist der Essener Stadtkern in den vergangenen 100 Jah- ren vom Wohnen abgekehrt. Politik und Wirtschaft haben sich stattdessen für den hochpreisigen Markt der Büro- und Verkaufsflächen entschieden. Auch wenn sich diese Entwicklung derzeit ändert, schlägt sich das Ergebnis dieser Politik messbar in den Statistiken nieder: Während im Jahr 1900 noch rund 13.000 Menschen im Stadtkern lebten, beherbergt er heute nur noch knapp 4.000 Bewohner. „Wir sollten an alte Zahlen und Zeiten anknüpfen. Es ist die Wohnnutzung, die den entscheidenden Unterschied macht. Sie bringt das Leben in die Straßen, auf die Plätze, so auch auf den Willy-Brandt-Platz. Bäume oder schöne Stadtmöbel werden da lange nicht ausreichen, um eine nachhaltige Verbesserung der Situation zu schaffen“, sind sich Ercan Agirbas und Frank Eittorf einig.

„Die Einkaufsstadt war einmal. Heute wird online bestellt und gekauft. Die Kaufhäuser von morgen sind Amazon & Co. Sie garantieren den stressfreien Einkauf rund um die Uhr und mit Rückgaberecht“, stellt Eittorf fest. Das Konzept funktioniere, wohl auch aufgrund der Bequemlichkeit der heutigen Gesellschaft. Agirbas: „Abgesehen vom Online-Shopping war der zweite große Trend, der der Shopping-Malls, insbesondere am Limbecker Platz, weder förderlich für die Entwicklung der Innenstadt, noch für die Rathaus Galerie oder die Kettwiger Straße als Einkaufsstraße des Reviers.“ Die Einkaufsstadt habe sich zum Einkaufsstandard entwickelt, beliebig und austauschbar.

„Die neue Mall hat den heutigen Standard besiegelt. Vielleicht ist aber genau das die Chance der Stadtplanung, den ‚vergangenen’ ‚Wohnstandard’ zurück in den Stadtkern zu holen. An einigen Stellen passiert das bereits“, sagt Eittorf. Die beiden Planer fragen: „WAS WÄRE WENN?!“

Das WILLY-BRANDT-TOR
Leerstehende Flächen könnten ‚wiederbewohnt’ werden. Vielerorts könnte sogar ganz neuer Wohnraum geschaffen werden, individuell, vielseitig, lebendig. Agirbas: „Das Leben würde in den Stadtkern zurückkehren, ergänzende Gastronomie als auch neue Lebensmittelgeschäfte würden ihre Abnehmer finden. Die bestehenden Geschäfte bekämen lokale Kunden hinzu. Im Kaufhof hat man sich erst vor einigen Jahren von seiner Lebensmittelabteilung getrennt, das könnte sich mittelfristig wieder ändern“, meinen beide Planer. Als Beispiel könne die Rüttenscheider Straße dienen: Unten ist das Geschäft, die Bar oder das Restaurant, oben wird gewohnt. Auf der Kettwiger Straße würde sich lediglich der Maßstab ändern. Neben der Nahversorgung wären auch hier die Feierabendstunden in und mit der Nachbarschaft gesichert.

„Den Eingang zur Innenstadt wollen wir städtebaulich mit einem Zeichen markieren – ein ergänzender Wohnturm als Pendant zum bereits bestehenden Turm auf dem Handelshof gegenüber. Dabei bedienen wir uns eines bereits bekannten Bildes um 1900: Auf der alten Hauptpost (Ecke Hachestrasse / Willy- Brandt-Platz) stach damals ein Turm hervor, der weit über die normale Gebäudehöhe hinausragte“, schildert Frank Eittorf. Den Turm vom Handelshof gegenüber kennen wir, er ist der übrig gebliebene des damals verloren gegangenen Tors zur Innenstadt.

Für die Platzierung des neuen Wohnturms haben sich die beiden Planer bewusst für die großflächige ‚Eiermann Fassade‘ entschieden. „Sie wird ein weiteres Mal reduziert, da sie auf dem Platz immer noch zu mächtig erscheint und nicht zum Verweilen einlädt. Außerdem wollen wir bei der neuen Wohnnutzung in Kombination mit vertikalen Gärten mehr Leben an die Fassade, und auf den Platz bringen. Dies wird durch örtliche Kubaturen und Fassadenthemen lediglich unterstrichen, denn eigentlich hat der Willy-Brandt-Platz schon jetzt außergewöhnliche und wertvolle Fassaden verschiedener Epochen, die es zu erhalten und zu ergänzen gilt“, so Agirbas.

„Was wäre, wenn im Staffelgeschoß über dem Herrenausstatter ‚Anson’s‘ gewohnt würde? Was wäre, wenn wir anfangen würden, die Stadt von oben beziehungsweise nach oben zu besiedeln?! Im Kleinen – wie im Großen?!“, fragt Frank Eittorf. Er ist sich sicher: Zeitgemäßes Wohnen heißt zunächst zentrales Wohnen. Die Vorzüge des öffentlichen Nahverkehrs sowie vielseitige Konzepte von Carsharing würden die Bewohner im Stadkern zu schätzen und zu nutzen wissen. Eittorf: „In Bezug auf bestehende Stellplatznachweise ist hier wieder die Stadt gefordert – zumal Anfang des Jahres die Bauordnung NRW die bis dato geltenden Richtlinien gelockert hat. Städte und Kommunen haben nun mehr Handlungsfreiraum, sehen jedoch leider meist keinen Handlungsbedarf. Insbesondere zur Reaktivierung der Innenstädte muss sich diese Haltung deutlich ändern. Wie ‚parkt’ es sich beispielsweise in Paris? Vielleicht wäre hier der eine oder andere Blick ins Ausland hilfreich.
Was wäre, wenn sich der Handelshof in Form einer individuellen Mischung aus Hotel und öffentlicher Gastronomie zum Willy-Brandt-Platz hin öffnen würde? Frank Eittorf würde dies für den Platz als angemessene Bereicherung verstehen, eine weitere Gastronomie mit Eigenleben und Abendsonne.

„Aus Düsseldorf und Hannover kennen wir Kaufhofkonzepte, die sich unter anderem durch den Verkauf von hochwertigen Nahrungsmitteln und Konsumieren entsprechender Speisen vor Ort auszeichnen. Die Essener Interpretation denken wir über dem freistehenden Eingangspavillon zum Kaufhof Galeria“, erklären die Planer. In einem neuen ‚Galeria Kaufhof HochPavillon‘ mit Sonnenterrasse auf dem Dach sollen die hauseigenen Produkte präsentiert, verkauft und verzehrt werden. Dachplatanen schützen vor zu viel Sonne und begrünen den derzeit lieblosen Willy-Brandt-Platz. Die grüne Hauptstadt bleibt.

Der Pavillon könne auch außerhalb der Geschäftszeiten als unabhängige Gastronomie funktionieren. Eine Kombination mit einer weiteren Nutzung, etwa mit der Touristikzentrale, sei denkbar. „Außerdem würden wir den Willy-Brandt-Platz mit begehbaren Schaufenstern ergänzen, die natürliches Licht in das Untergeschoss bringen sowie die Einkaufenden über das aktuelle Sortiment im Untergeschoß informieren und neugierig machen würden. Ein angemessener Auftakt mit Richtungswechsel, zum einen auf die Kettwiger Straße, die Geschäfte, zum anderen zum Hauptbahnhof in die Untergeschosse, zur U-Bahn, zum neuen Kaufhof “, sind sich Ercan Agirbas und Frank Eittorf sicher.

Auch hier spielten neben Eigentümern und Pächtern die Stadtverwaltung und die Politik eine Schlüsselrolle. Es gelte Lösungen für die Visionen von Eigentümern und Planern zu finden, Visionen und Lösungen für unsere Stadt. „Wir denken nach oben, nach unten, zur Seite, aber insbesondere nach vorne. Wir sehen den Willy-Brandt-Platz als Ort der Interaktion“, betonen die Planer und bleiben dem Motto der Serie treu.

Denn Sie fragen abermals: „WAS WÄRE WENN?!“ pHes

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